Einer der seltsamsten Aspekte von Sacred Harp ist das Armwedeln. Jeder, dem diese Musik zum ersten Mal begegnet, wundert sich offenbar am meisten über das Gefuchtel beim Singen, und so manchen schreckt es wohl auch ab. Zugegeben, es sieht für den Uneingeweihten wirklich merkwürdig aus. Chöre machen das im allgemeinen nicht, was soll es also?

Nun, es dürfte einleuchten, dass mehrstimmiger Harmoniegesang besser klingt, wenn die Sänger synchronisiert sind, im Timing aufeinander abgestimmt. Ein Chor erreicht das durch x-maliges Üben eines Liedes, unterstützt von einem typischerweise recht diktatorisch auftretenden Chorleiter. Man feilt so lange, bis die Sache erstens sitzt und zweitens alle das Lied nicht mehr hören können.

Eine Sacred-Harp-Gruppe ist kein Chor, hat keinen Leiter und feilt nicht. Sie singt Lieder aus Freude am Singen – sie prügelt sie nicht tot, um sie anschließend anderen vorzuführen. Sacred Harp ist so ziemlich das Gegenteil einer Diktatur, es ist demokratisch bis an die Grenze des Durcheinanders. Um nicht in das stets drohende Chaos zu rutschen und dennoch nicht den Preis eines “totalitären Regimes” zu zahlen, haben kluge Leute einige ebenso kluge Hilfsmittel ersonnen. Das “Singen der Noten” (Shapes) ist eines und die Armwedelei ein weiteres; sie hilft, die Sänger im Takt zu halten.

“Na gut”, wird der geneigte Leser denken, “dann wedelt man halt im Rhythmus mit.” Nnnaja… es ist fast so einfach, aber nicht ganz. Crashkurs Musik in einem Absatz:

Jedes Lied ist in Takte aufgeteilt. Jeder Takt enthält meistens mehrere Noten (manchmal auch nur eine oder gar keine, letzteres ist eine Pause). Jede Note bezeichnet einen Ton, jeder so aufgeschriebene Ton wird gesungen. Nacheinander gesungene Töne bilden eine Melodie; gleichzeitig (von verschiedenen Leuten) gesungene Töne bilden eine Harmonie. Die Harmonie klingt dann gut, wenn die Sänger erstens ihre Töne treffen und zweitens gleichzeitig mit dem Singen des jeweiligen Tones beginnen und aufhören. Beim ersteren helfen die Shapes, beim letzteren die Takte einschließlich des Wedelns.

Was heißt das? Sehen wir es uns an einem einfachen Beispiel an, einem Lied im 2/2-Takt (“zwei Halbe”).

Es hat 19 Takte, sie sind durch Taktstriche (rot hervorgehoben) getrennt. “2/2” heißt, dass jeder Takt so lang ist wie zwei halbe Noten. Die meisten Takte in “Cobb” enthalten zwei halbe Noten, außer den blauen, in denen ganze Noten stehen und den grünen, in denen Alt und Tenor jeweils eine halbe Note lang Pause haben. Sucht jetzt aber nicht im Gesangbuch nach blauen und grünen Takten…

“Gewedelt” wird das so:

Jeweils am Beginn eines Taktes ist die Hand oben, in der Mitte des Taktes unten und am Ende wieder oben, bereit, in den nächsten Takt “einzusteigen”.

“Die Hand springt über den Taktstrich.”

Manchen hilft die Vorstellung, den Notenlinien so zu folgen, wie man an einem Zaun entlanggeht. Die Hand gleitet auf dem Zaun entlang und muss über die regelmäßig oben herausstehenden Zaunpfähle springen. Die Taktstriche sind die Zaunpfähle.

Diese Regel, dass die Hand über den Taktstrich springt, gilt immer, egal, bei welcher Taktart. Sehen wir uns ein paar weitere an:

“Windham” ist im 4/4-Takt (“vier Viertel”) geschrieben; jeder Takt ist so lang wie vier Viertelnoten. Eigentlich dieselbe Länge wie 2/2… aber hier prägen tatsächlich die Viertelnoten den Charakter des Liedes. Und es gilt wieder dasselbe; am Anfang des Taktes ist die Hand oben, in der Mitte unten, am Beginn des nächsten wieder oben.

Nochmal 4/4:

Was ist hier anders? Nun, das Lied beginnt mit einer Pause. Das heißt, dass zu Beginn der ersten gesungenen Note die Hand nicht oben, sondern unten ist. Der Rest bleibt wie gewohnt.

Dass die “Wedelkurve” hier so seltsam verzerrt aussieht, liegt daran, dass lang ausgehaltene Noten im Schriftbild genauso breit sind wie kurz gesungene. Sehen wir uns die ersten beiden Takte an:

Auf der Achtelnote (dem “ye”) ist die Hand ungefähr unten.

Alles klar? Gut. Zeit für ein bisschen Verwirrung.

Die Kurve sieht aus, als hätte der Zeichner zu viel Kaffee getrunken. Aber gemach, hier kommt die Erklärung.

“Idumea” steht im 3/2-Takt, jeder Takt ist so lang wie drei halbe Noten. Bisher haben wir die Takte beim Wedeln gewissermaßen halbiert; in der Mitte des Taktes war die Hand unten. Nun müssen wir den Takt dreiteilen. Wir könnten ein Dreieck in die Luft malen, aber im Square sitzen die Sänger um den Leader herum, und ein solches Dreieck würden nicht alle gleich gut sehen.

Also wedeln wir weiter auf und ab. Wieder ist die Hand am Beginn des ersten “vollen” Taktes (hier grün markiert) oben. Im ersten Drittel des Taktes sinkt sie den halben Weg nach unten, etwa bis zur waagerechten Position. Im zweiten Drittel geht sie bis ganz nach unten, und im dritten Drittel den ganzen Weg wieder nach oben. Wir zählen “eins, zwei, drei” und wedeln “halb, halb, ganz”.

Merkregel: Immer wenn bei der Taktangabe oben eine 3 steht, wird das Lied mit dieser “halb, halb, ganz”-Methode durchgewunken. In allen anderen Fällen, egal, ob im Zähler eine 2, 4, oder 6 steht, wedeln wir “runter, rauf” wie ganz oben beschrieben.

Ach ja, “Idumea” hat, wie auch “Pilgrim”, einen Auftakt; wir beginnen also beim Singen der allerersten Note mit der Hand unten.